heute hier, morgen dort…

Marcus Lütkemeyer
Kunsthalle Münster, 2004

Noch in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurde der Rückzug ins Private als Verfall und Ende des öffentlichen Lebens angemahnt. So hatte der Verlust eines transzendenten Ordnungsmodells im 19. Jahrhundert das Anwachsen eines säkularen Materialismus zur Folge und die Individualisierung der Gesellschaft vorangetrieben. Im Privaten galt fortan, den Mangel öffentlicher Expressivität durch Intimität, Selbstoffenbarung und Authentizität zu kompensieren, was zum sogenannte Cocooning führte, das den Einzelnen formte, die urbanen Strukturen und ihre Gesellschaft dagegen nachhaltig deformierte.

René Zeh hat für heute hier, morgen dort… eine Installation

konzipiert, die Phänomene des Wohnens und Reisens und deren sonderbare Allianzen aber auch Widersprüche mit Blick auf zeitgenössische Individualisierungstendenzen fokussiert. Ein ruppiges Baugerüst von 3,50 Meter Höhe und 3 x 4 Metern Grundfläche schließt knapp unter den Rohrverstrebungen der Hallendecke mit einem betretbaren Plateau, an dem seitlich eine kubische, zur Plattform offene, schlichte Holzbox angebracht ist. Die Innenseiten der Box verkleiden Stadtpläne der Weltmetropolen, auf dem Boden liegt eine Decke und als einziges Mobiliar dient ein Notebook, das eine simulierte Reiseroute als ritzomartiges Gespinsts, im Stil naiv abstrahierender Videospiele der frühen 80er Jahre zeigt.

Einerseits Minimalwohnraum, erinnert die Box an die provisorischen Unterkünfte nomadischer Obdachloser. Andererseits erweckt sie den Eindruck eines primitiven Transportvehikels auf einer absurden Abschussrampe skulptural exponiert, mit dem man per Mausklick durch die Welt zappen kann. Navigiert wird über das Kartenwerk, dessen zweidimensionale Darstellung Unebenheiten nivelliert und Welt zum beherrschbaren Schnittmuster reduziert.

„BLOCK“ bildet ein modulares Ensemble, das sich formal an architektonischen Gegebenheiten der Ausstellungshalle orientiert und sich in seinen Dimensionen diesen Vorgaben nahezu widerspenstig entgegenstellt. Im Spannungsverhältnis von Assimilation und Entgrenzung erweist sich die Installation als ein komplexes Werkzeug, das eine (imaginäre) Verschränkung zwischen öffentlich und privat, Welt und Individuum organisiert. Dabei will vor allem die Begehbarkeit, im Sinne eines erweiterten Nutzens die Integrität

des Einzelnen symbolisch bewahren und zu verantwortungsvollem, ästhetischem Handeln herausfordern. Jedoch betreibt die Arbeit keine künstlerische Umsetzung architektonischer und gesellschaftlicher Visionen oder Utopien, sondern trägt zuallererst unter Berücksichtigung vorgefundener Phänomene dem Grundbedürfnis des Wohnens Rechnung. Denn ist der Mensch ein Wohnwesen und kennzeichnet seinen Bezug Verhältnis zur Welt den eines Einwohners, haftet der kreativ selbstsichernden Lebensraumschöpfung eine dynamische Lebensqualität an. Aber verhält sich der Vorgang des Reisens nicht diametral zur physischen Grundfigur des Wohnens, zumal der Traum totaler Mobilität eine Erlösung vom Körper einfordern würde? Schnittmenge beider (Lebens-)Kategorien sind dagegen die individualisierenden Medientechniken, die sowohl einen virtuellen/mentalen Nomadismus bedingen, als auch den Kosmos in die private Weltblase holen sollen, um das Weltbildungsbedürfnis des Menschen im Sinne einer weltfernen Weltoffenheit zu leisten. 

So bildet die mediale Ausstattung der Transporterbox die Möglichkeit, Selbstbegleiter zu sein und gleichzeitig als Distanzgeber im Sinne eines Telesozialismus zu funktionieren, wodurch Vereinzelung und (Selbst-)Exploration sinnfällig zusammenfallen. Entsprechend ergänzt der Einwohner/Nutzer der Transporterbox sich nicht länger durch die Medien selbst, vielmehr geht er in ihnen auf. Folglich fehlt von ihm jede Spur und die Decke, als behagliches Instrument des Sich-Einräumens, auf der Suche nach dem unverwechselbaren Eigenraum, liegt zusammengeknüllt in einer Ecke. Die Blase ist zerplatzt und der Verlust des Körpers, als intimste Behausung, zeitigt das Paradox des letzten Schritts auf dem Weg der Individualisierung. 

Wohin die Reise geht, bleibt ungewiss. Eine Hypothese liefern tendenziell zwei clipartig gebaute Filmsequenzen auf der Zwischenetage des Gerüsts und vor allem die beiden nahezu deckenhohen Baumhauscollagen, die als ironisch gebrochene Transzendierung des Themas ganz (un-)romantisch gerade solche Sinnprovinzen als Zufluchtsort anbieten, die sich allein durch ihre artifiziell entrückte Inszenierung ausweisen. So tauchen in den auf Papier gezeichneten Baumwipfeln Ausschnitte aus Lifestyle-, Mode- oder Urlaubskontexten auf, die sich als Embleme zeitgenössischer Robinsonaden im schönen Schein der Medien verflüchtigt haben, noch ehe man ihrer habhaft werden könnte. 

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